Schnee von gestern

Seit Monaten bittet uns die Regierung Masken zu tragen, Abstand zu halten und soziale Kontakte einzuschränken. Kaum steht aber die Wintersaison vor der Tür, sind diese Bitten und Forderungen Schnee von gestern. Ich muss ja zugeben, ich verstehe nicht viel von den Brettern, die die Welt bedeuten – also von Skiern. Obwohl ich in Tirol aufgewachsen bin, habe ich nie Skifahren gelernt. Damals, vor etwa 14 Jahren, war Snowboarden gerade in. Um cool zu sein und mitreden zu können, wollte ich es unbedingt lernen. Meine Mutter stand dem Vorhaben sehr skeptisch gegenüber, denn sie wusste, wie unsportlich ich eigentlich war. Ich hatte mir das damals aber noch nicht eingestehen wollen. Für meine angehende Snowboarder-Karriere legte meine Mutter also Extraschichten bei der Arbeit ein, um mir überhaupt ein Snowboard kaufen zu können. Auf der Piste traf mich dann die eisige Erkenntnis recht schnell: Ich war steifer als das Brett und mir war eiskalt. Meine Sportkarriere fand ein vorzeitiges Ende.

Wie wichtig für viele Menschen der Wintersport ist, ist mir dennoch klar. Wie gesagt, ich bin in Tirol aufgewachsen. Aaaaaaaber: Nur weil man jetzt den Wintertourismus retten will, ist es nicht ok, einfach alle Maßnahmen aus der Gondel zu werfen. Während es im Sommer noch hieß, man soll bitte nicht reisen und lieber Urlaub in Österreich machen, erklären PolitikerInnen nun in TV-Diskussionen, dass es auf der Piste fast keine Corona-Fälle gibt und die ausländischen Touristen sich nicht zu fürchten brauchen. So sieht sie also aus, die österreichische Willkommenskultur.

Im Sommer hat die Regierung noch laut Reiswarnung geschrien. Wer in ein Balkanland wie Bosnien oder Kroatien fahren wollte, musste es still und heimlich machen, um nicht als „Lebensgefährder“ verteufelt zu werden. Ich habe seit über einem Jahr meine Familie in Bosnien nicht mehr gesehen. Ich verpasse die ersten Schritte, die die Kinder meiner Cousinen machen. Ich verpasse traditionelle Feste mit meinen Verwandten. Ich verpasse es, am Todestag meiner Tante im Familienkreis zu trauern und an sie zu denken. Auch meine Mutter, die in Tirol lebt, habe ich heuer coronabedingt sehr selten besuchen können. Ob wir Weihnachten zusammen verbringen werden, ist ebenfalls ungewiss. Fix ist, dass wir dieses Jahr nicht mehr nach Bosnien fahren werden. Ich erwarte mir an dieser Stelle auch kein Mitleid. Vielen geht es so wie mir, viele können ihre Familien nicht sehen, nicht umarmen. Diese Pandemie macht uns kollektiv traurig und einsam. Doch sie macht auch wütend, mich zumindest. Wenn monatelang appelliert wird, dass man Abstand halten sollen, nicht reisen soll, soziale Kontakte einschränken soll, damit man Risikogruppen schützt, kann man beim Wintertourismus nicht plötzlich eine Ausnahme machen. Ich bin nicht das ganze Jahr über zu Hause geblieben, damit ihr jetzt dicht gedrängt in der Gondel steht, um die Piste herunter zu wedeln.

Und kommt jetzt nicht mit „aber wir müssen die Wirtschaft retten“. Vor allem was soll dieses „wir“ bedeuten. Man bekommt langsam das Gefühl, wenn man nicht sofort in die nächste Seilbahn springt, ist man persönlich schuld daran, dass Saisonarbeiter nicht bezahlt werden und den Hoteliers die Umsätze wegbrechen. Natürlich ist dann nicht die Pandemie daran schuld, sondern „wir“, weil wir wegen einem Virus nicht über die Pisten brettern wollten. Es ist mir schon klar, dass die Betriebe diesen Winter zittern und nicht zusperren wollen. Überraschung: Das wollen auch Gastronomen, Frisöre, Mechaniker, Kulturstätten, Kinos, Modegeschäfte, Restaurants, Clubs und Bars nicht. Die zittern genauso.

Ich denke, wir haben in dieser Debatte nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir verhalten uns so, dass wir Risikogruppen schützen und den Anstieg von Infektionszahlen verhindern, oder wir kuscheln mit Dutzenden anderen in der Seilbahn und tun so, als ob das alles völlig in Ordnung wäre. Aber dann können wir auch bitte gleich wieder durch die Welt reisen, Hochzeiten mit hunderten Gästen feiern und in Clubs tanzen.

 

 

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